Dienstag, 9. August 2011

Sommerloch

Vermutlich haben alle Leser mitbekommen, daß (mal wieder) die "Keine Anonymität im Internet"-Sau durch das Sommerloch getrieben wurde. Obwohl bisher mir niemand die Frage beantworten konnte, warum dann ausgerechnet der Grundpfeiler der Demokratie, nämlich die Wahlen, geheim ist, ist die Formulierung, mit der die Forderung nach Klarnamen diesmal verpackt wurde, alles andere als uninteressant:
"Normalerweise stehen Menschen mit ihrem Namen für etwas ein. Warum nicht auch ganz selbstverständlich im Internet?"
Würde man sich diese Frage mal nicht nur rhetorisch sondern tatsächlich stellen, ergäbe sich vielleicht ein wenig Erkenntnisgewinn.

Fangen wir doch mal gleich ganz vorne, also bei der Voraussetzung an: "Normalerweise stehen Menschen mit ihrem Namen für etwas ein." Was heißt denn hier "normalerweise"? Muß man -- wie ich -- ein schlechtes Namensgedächtnis haben, um zu bemerken, daß dieses "normalerweise" ein doch eher seltener Fall ist? Weder die Werber für Unicef noch die missionierenden Pfingstler haben sich heute auf dem Anger namentlich vorgestellt. Bei zufälligen Gesprächen in der Bahn stellt man sich für gewöhnlich auch nicht gleich mit Namen und "Dienstgrad" vor. Womit man zwangsläufig für etwas einsteht, ist vielmehr das Gesicht. Jemand, der in der Öffentlichkeit mit Sturmhaube auftritt, ruft für gewöhnlich ein nicht gänzlich unberechtigtes Mißtrauen hervor, aber Namensschilder tragen doch die Wenigsten.

Ok, Innenminister Friedrich bezog sich ja auf Blogs, und damit eher weniger auf zufällige Gespräche, sondern mehr auf eine Form der Teilhabe am politischen Diskurs. Gilt das "normalerweise" also für diesen? Das ist natürlich eine Definitionsfrage, aber auch auf den (wenigen) Demos, auf denen ich bisher war, wurde ich nicht nach meinem Namen gefragt, und bereits das verdachtsunabhängige, standardmäßige Filmen von Demonstrationen durch die Polizei ist nach Ansicht der deutschen Gerichtsbarkeit eine Gefahr für die Meinungsfreiheit oder genauer: das Wissen, von der Polizei wahrscheinlich gefilmt zu werden, kann mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß Bürger ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mehr wahrnehmen. Mit anderen Worten: Anonymität ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, denn wenn es nur dem zukäme, der sich damit nicht in Gefahr bringen kann, weil er sowieso die Mehrheitsmeinung vertritt, wäre es nicht mehr existent. Ich denke, das dürfte jeder Lebensschützer nachvollziehen können.

Aber schenken wir Friedrich mal die Voraussetzung, indem wir sie als auf eine Form des Publizierens bezogen verstehen. Sowohl Politiker als auch Publizisten leben davon, mit jeder Wortmeldung Eigenwerbung zu betreiben. Insofern ist es normal, daß sie mit ihrem Namen für etwas einstehen. (Daß Politiker in der Regen wenig Hemmungen haben, nach der Wahl irgendwelche Ausreden zu erfinden, warum ihre Versprechungen leider doch nicht umsetzbar sind, lassen wir einfach mal unter den Tisch fallen.) Auch Leserbriefe sind für gewöhnlich mit einem Namen und häufig auch einem Wohnort verbunden. (Auch hier übergehen wir, daß das nicht in allen Publikationsorganen so gehalten wird, daß manche also die Leserbriefe auch nur mit Namen oder gar Vornamen veröffentlichen und dadurch in der Regel bereits eine Anonymisierung stattfindet.)

Dann stellt sich allerdings tatsächlich die Frage: Warum ist das nicht ganz selbstverständlich auch im Internet so üblich? Die Antwort, der man mal wirklich nachgehen sollte, wäre vermutlich eine ganze soziologische Doktorarbeit wert. Mir fallen spontan drei mögliche Gründe ein:

  • Individualisierung: Wer früher publizieren wollte, mußte entweder viel Geld haben oder jemanden mit Geld davon überzeugen, seine Ergüsse zu drucken. Mit anderen Worten: Jeder Veröffentlichung ging vor dem Druck durch einen Relecture-Prozeß, so daß jeder Publizist zumindest eine gewisse Zahl an Personen hatte, die im Falle des Falles "mitgefangen, mitgehangen" waren. Im Internet kann jeder ohne Geld und ohne Rückversicherung bei anderen publizieren, hat also weniger, u.U. gar keinen persönlichen Rückhalt, auf den er sich stützen kann. Sollte ihn das vom Veröffentlichen seiner Meinung abhalten?

  • Profilbildung: Wer früher publizierte, mußte publizieren bis zum Umfallen um mit einem gewissen Profil wahrgenommen zu werden. Wer neu auf einen Autor stieß, hatte es mitunter schwer, ältere Veröffentlichungen aufzufinden, um sie alle zusammenzuführen hätte er wochen- und monatelang in Bibliotheken und Archiven zubringen müssen. Beim Internet erfolgt die Profilbildung vollautomatisch, auch der durchschnittliche Leser kann mit Hilfe von Suchmaschinen leicht lange Jahre zurückliegende Äußerungen auffinden. Was früher wünschenswert war, nämlich mit einem bestimmten Profil wahrgenommen zu werden, kann heute Fluch sein: Wer nur in seiner Freizeit bloggt, kriegt durch solche leicht zu erstellende Profile möglicherweise schnell Probleme, die er lieber umgeht. Ich jedenfalls habe mich aus solchen Erwägungen heraus schon vor Jahren aus sämtlichen Telefonverzeichnissen streichen lassen. Es muß ja nicht sein, daß ich irgendwann vor die Tür trete und die eine oder andere Faust ins Gesicht bekommen, nur weil ich mich mal gegen die hiesige NPD oder gegen Abtreibung positioniert habe.

  • Subversion: Wer nicht die (politisch korrekte) Mehrheitsmeinung vertritt, muß zusätzlich zur sowieso schon bestehenden Minderheitensituation auch noch die nur scheinbare Marginalisierung durch die Schweigespirale überwinden. Wer das schon einmal live und in Farbe (oder meinetwegen auch nur mit Realnamen) versucht hat, weiß, welchem sozialen Druck er sich aussetzt. Und wird es sich beim nächsten Mal überlegen, ob er sich das noch einmal antut.

7 Kommentare:

  1. Der KStA hat das heute auch ganz dick bei uns drin gehabt. Jaja, wir sind alles rechtsradikale Grillanzünder ...

    Und die Linken werden ganz plötzlich ganz schnell ziemlich recht.

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  2. Drei Anmerkungen:

    1. Nach herrschender Rechtsmeinung sind Blogs, die nicht nur ausschließlich persönlichen und/oder familiären Zwecken dienen, schon jetzt impressumspflichtig.

    Nur wenige Blogger halten sich an diese aus § 55 I Rundfunkstaatsvertrag (RStV) folgende gesetzliche Verpflichtung; ich zum Beispiel tue es im Augenblick nicht, denke aber darüber nach, doch noch ein Impressum zu schalten.

    2. Es war der erzliberale John Stewart Mill, der sich 1861 (in "Considerations on Representative Government") vehement gegen geheime Wahlen aussprach.

    Er sah im Wahlrecht eine bürgerliche Verpflichtung:

    "His vote is not a thing in which he has an option; it has no more to do with his personal wishes than the verdict of a juryman. It is strictly a matter of duty; he is bound to give it according to his best and most conscientious opinion of the public good.

    Mill folgerte;

    "This being admitted, it is at least a primâ facie consequence that the duty of voting, like any other public duty, should be performed under the eye and criticism of the public."

    Diese Gedanken Mills lassen sich auf Äußerungen im öffentlichen Raum (und das Internet ist ein öffentlicher Raum) übertragen.

    Denke zum Beispiel an das Thema "pseudonyme Produktrezensionen" (etwa bei Amazon).

    Hier hat die Öffentlichkeit, meine ich jedenfalls, durchaus ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, ob sich hinter dem Pseudonym vielleicht ein Mitbewerber des Produktanbieters verbirgt.

    Richtig ist m.E. auch, dass es im Schutz der Anonymität zu einem rapiden Verfall der Qualität öffentlicher Meinungsäußerungen gekommen ist. Ich denke hier etwa an Blogs, in denen der Name der Bundeskanzlerin regelmäßig durch ein beleidigendes Reimwort ersetzt wird.

    3. Diese Anmerkungen sind kein Plädoyer für eine gesetzliche Aufhebung der Anonymität im Netz (die, wie jeder weiß, sowieso nur sehr begrenzt gegeben ist).

    Ich meine aber, dass wir die Sommerloch-Äußerungen des Bundesinnenministers zum Anlass nehmen sollten, einmal über die diskussionskultur im Netz (und über die eigene Schere im Kopf) nachzudenken.

    Viele Grüße
    Morgenländer

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  3. Ohne Mill jetzt genauer zu kennen, erkenne ich in dessen Äußerungen ein aufklärerisches Menschenbild, das ich nicht teile. Insofern kann ich dessen Gedanken als Ausgang weiterer Überlegungen nicht übernehmen.

    Was den "rapiden Verfall der Qualität öffentlicher Meinungsäußerungen" angeht: Meiner Meinung nach bekommt man über das Internet heute nur mit, was schon immer in "fremden" (Stammtisch-)Kreisen üblich war. Oder anders gesagt: Die öffentlichen Meinungsäußerungen sind heute nicht mehr auf eine (selbsternannte?) Elite beschränkt.

    Gedanken zur Diskussionskultur im Internet hatte ich im Blogspost ursprünglich mal drin, aber das wurde dann zu weitschweifig :-) Und genau das passsierte mir jetzt gerade wieder, also lasse ich sie auch hier wieder weitgehend weg, bis ich einen neuen Post daraus gebastelt habe.

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  4. @Vincentius Lerinensis:

    Dass das Wahlrecht eine Verpflichtung beinhaltet, ist ein Gedanke, der auch christlichen Denkern nicht fremd ist (mir fällt jetzt Josef Pieper ein, ohne dass ich dies auf Anhieb mit einem Zitat belegen könnte).

    Mill hatte ich zitiert, weil er als Radikalliberaler hier einen Gedanken vertritt, der dem heutigen liberalen Mainstream eher fremd ist.

    2. Waren öffentliche Meinungsäußerungen früher wirklich auf eine (selbsternannte) Elite beschränkt? Ich denke das eigentlich eher nicht, schließlich konnte jedermann auch schon vor den Zeiten des Internets seine Meinung durch Leserbrief oder Flugblatt (auch hier gibt es eine Impressumspflicht) öffentlich machen.

    Viele Grüße
    Morgenländer

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  5. Daß das Wahlrecht eine Verpflichtung beinhaltet, ist ja überhaupt keine relevante Frage. Es gibt ja durchaus Demokratien, in denen das Wahlrecht zugleich eine Wahlpflicht darstellt. Es ist aber ein Unterschied, ob ich zur Wahl verpflichtet bin, oder ob ich mein Kreuzchen öffentlich machen muß und mich dafür dann später vor dem Staat rechtfertigen muß. Das kenne ich eigentlich nur aus Diktaturen.

    Zu 2.: Ja, die Möglichkeit, seine Meinung öffentlich zu machen, war aus technischen und finanziellen Gründen beschränkt. Leserbriefe mußten genauso einen "Gatekeeper" überwinden wie journalistische Beiträge, wer Flugblätter drucken wollte, brauchte entsprechend Geld.

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  6. @Vincentius:

    In Großbritannien, dem Mutterland der Demokratie in Europa, waren es die sozialrevolutionären Chartisten, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Einführung der geheimen Wahl drängten; Konservative und Liberale lehnten dies über lange Zeit ab. Eingeführt wurde sie dann erst 1872.

    In den USA waren Wahlen bis 1884 öffentlich; die erste Präsidentschaftswahl, die komplett in geheimer Wahl durchgeführt wurde, fand sogar erst 1891 statt.

    Diese Staaten waren vor der Einführung der geheimen Wahl gewiss keine Diktaturen.

    Viele Grüße
    Morgenländer

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  7. Naja, eine geheime Wahl setzt ja irgendwie auch voraus, daß die Wähler entweder lesen oder schreiben können.

    Andererseits würde ich die Wahlverfahren des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt mit den heutigen demokratischen Standards vergleichen wollen. Ich denke, der deutlichste Unterschied besteht etwa im Frauenwahlrecht...

    Ich denke auch nicht, daß wir in dieser ganzen Diskussion weiterkommen, wenn wir als Voraussetzung nehmen, daß alles auch ganz anders geregelt sein könnte.

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