Mittwoch, 10. August 2011

Öffentlichkeit sui generis

Im Kommentarbereich zum Sommerloch hat sich der Morgenländer gewünscht, "die Sommerloch-Äußerungen des Bundesinnenministers zum Anlass" zu nehmen, "einmal über die diskussionskultur im Netz (und über die eigene Schere im Kopf) nachzudenken". Zunächst mal vorneweg: Ich freue mich, wenn tatsächlich eine sachliche Diskussion zustandekommt, auch wenn das Medium "Blog" dafür nicht unbedingt die beste Infrastruktur für bietet. Allerdings frage ich mich, ob mit Unterstellungen einer "Schere im Kopf" da weiter zu kommen ist. Meines Erachtens geht es nämlich nicht um eine "Schere im Kopf" (weder auf der einen noch auf der anderen Seite), sondern um ein Ausgehen von unterschiedlichen Voraussetzungen und eine unterschiedliche Gewichtung der (vielfältigen) Aspekte, die in die ganze Geschichte reinspielen.

Die Diskussion um Realnamen ist nicht neu. Schon auf dem Höhepunkt des Streits im Usenet vor ca. 10 Jahren wurde im großen und ganzen dieselben Argumente ausgetauscht. Gegen Pseudonyme wurde u.a. angeführt:
  • Wer ein Pseudonym verwendet, scheint nicht öffentlich zu seiner Aussage stehen zu wollen und zerstört so die Diskussionskultur.
  • Die Qualität der Äußerungen von Pseudonymschreibern ist im Schnitt deutlich geringer als die von Realnameverwendern (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Infolgedessen ist es von geringem Nutzen, solche Beiträge überhaupt erst zu lesen. Viele haben tatsächlich auf Pseudonyme gefiltert, so daß ihnen entsprechende Postings nicht mehr angezeigt wurden.

Ich gehörte zwar nie zu den Filterern aufgrund von Pseudonym (ließ sich mit Netscape Collabra gar nicht sinnvoll umsetzen, später war ich nicht mehr in weltanschaulichen Gruppen aktiv, woanders braucht man aber kaum ein Killfile), wohl aber fanden sich in meinem Killfile bevorzugt tatsächlich Pseudonymverwender. Andererseits gab es auch Leute, die unter (scheinbarem?) Realname unsäglichen Dünnschiß von sich gaben.

Zugleich stellt das Filtern aber auch eine Art von "Cocooning" dar: Man muß sich ja mit den Argumenten der Gefilterten nicht mehr auseinandersetzen. Jede Filterregel war für mich daher immer auch ein Zeichen der Niederlage. Gut, es gab (und gibt) die Diskutanten, die schlicht und ergreifend diskursunfähig sind, weil sie auf jedes beliebige Argument mit denselben Textbausteinen antworten. Irgendwann ist dann halt einfach mal genug. (Ein Beispiel: In einer Diskussion über Kreationismus vs. Evolution brachte es eine Diskutantin fertig, nach über 200 Posts die ganze Diskussion wieder in die Tonne zu treten und sinngemäß zu schreiben: Was soll denn der ganze Mist hier? Könnt ihr nicht in die Bibel gucken? Ich lese da eindeutig, daß die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde. Sie schrieb übrigens unter Realname.) Dennoch erschrecke ich immer wieder, wenn jemand der Meinung ist die Diskussion mit $ANDERE_WELTANSCHAULICHE_GRUPPE hätte einfach keinen Sinn, da sei kein Blumentopf mit zu gewinnen. Meine Erfahrung ist eigentlich eine andere, es kostet nur viel Zeit und die Diskussion muß sich sukzessive auf die grundlegenden Differenzen (meist auf Metaebenen zu suchen) verschieben. Leider bieten weder Blogs noch Soziale Netzwerke dafür die geeignete Technik.

Insofern kann ich die Bedenken gegenüber der gegenwärtigen Diskussionskultur im Internet durchaus verstehen. Allerdings sehe ich das Problem nicht in der (scheinbaren) Anonymität, sondern im (fortgesetzten) Cocooning: Was da als schlechter Stil kritisiert wird, ist meines Erachtens eine Folge der zunehmenden Fragmentierung unserer Gesellschaft, in deren Folge die Denkmöglichkeit einer zum eigenen Fragment abweichenden Meinung als unmöglich erscheint. Oder anders gesagt: Viele Diskutanten sind mit der Empathie für ihr Gegenüber überfordert, wenn es nicht die unhinterfragten Grundannahmen des eigenen Milieus teilt: Like/Dislike, irgendwas dazwischen gibt es nicht mehr. (Josef Bordat hat das einmal ziemlich treffend beschrieben: hier unter "III.Probleme des Web 2.0 und ihre Bedeutung für die Kirche" -- was habe ich für einen Schreck bekommen, als ich das erste Mal feststellte, daß eines meiner Usenetpostings bei Google Groups bewertet wurde, obwohl ich dort überhaupt kein Profil angelegt habe -- und dann auch noch mit nur einem Sternchen. Eigentlich hätte ich erwartet, daß jemand mit offensichtlich so divergierender Meinung auf das Posting antwortet. Leider weiß ich bis heute nicht, wer mich da bewertet hat und noch nicht einmal welches Posting da bewertet wurde.)

Keine Frage, die Probleme mit Pseudonymen, insbesondere in der Form, wie sie Morgenländer angesprochen hat, nämlich scheinbare Rezensionen von Nutzern, die tatsächlich aber von Konkurrenten des Anbieters stammen, gibt es. Sie wird man jedoch nicht dadurch lösen, daß man eine (sowieso nicht umsetzbare) Klarnamenpflicht einführt. Denn dieser Forderung ist letztlich auch nur eine Form von "Cocooning", ausgehend von einer bestimmten Form und einem bestimmten Verständnis von Öffentlichkeit, wie es sie vor dem Internet gab (mit all ihren Zugangsbeschränkungen und anderen Hindernissen). Sie will eine bestimmte Form von Verhalten in der Öffentlichkeit restaurieren, die es aber jenseits der Wahrnehmung der Elite vermutlich nie gab. (Oder wie ich im Kommentar schon schrieb: heute wird wahrgenommen, was früher in der beschränkten Öffentlichkeit eines bestimmten Milieus verblieb -- und dort als normal galt.)

In dieser Hinsicht geht die Diskussion meines Erachtens in eine völlig falsche Richtung. Die Frage ist tatsächlich, warum es nicht selbstverständlich üblich ist, im Internet mit Klarnamen zu schreiben. Meines Erachtens scheitert die Anwendung von Kategorien der "Öffentlichkeit", wie sie vor dem Internet exisierte. Einige Gedanken dazu habe ich im letzten Posting schon angerissen, sie stellen aber mehr eine "Leerstellenanzeige" dar als einen Lösungsansatz. "Das Internet" speichert, wertet aus, erstellt Profile, ist auf mehr oder weniger ewig durchsuchbar, die Gnade des Vergessens jahrealter Fehlleistungen ist vorbei. Mit dieser Herausforderung müssen wir umzugehen lernen, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Daß es mit einer Kultur der Vergebung und Verzeihung was wird (so schön das wäre), da bin ich doch eher skeptisch...

1 Kommentar:

  1. Danke für die Denkanstöße.

    Ich hab' mir zu dem Thema jetzt im Blog auch meine Gedanken gemacht. Sehr lesenswert finde ich auch Joseph Bordats Blogbeitrag "Die Bedeutung von namen in christlicher Sicht".

    Viele Grüße
    Morgenländer

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