In der heutigen FAZ gibt es in der Beilage Bilder und Zeiten einen interessanten Artikel von Mercedes Bunz (ja, sie heißt wohl wirklich so, auch wenn mir Google das nicht glauben wollte...) über die Folgen der "digitalen Revolution" für das menschliche Denken (Artikel online nur für Geld). Diese Frage ist ja schon vor einem Jahr etwas ausführlicher diskutiert worden, wenngleich auf sehr unterschiedlichem Niveau.
Bei Frau Bunz habe ich allerdings einen Gedanken gefunden, den ich bisher so nicht gelesen hatte, nämlich zur Funktion des Experten. Den mache das Internet nämlich keineswegs überflüssig, aber es verändere seine Funktion. Bisher zeichnete sich ein Experte dadurch aus, daß er auf einem bestimmten Gebiet mehr wußte als andere. Mit dem Internet und vor allem seiner leichten Durchsuchbarkeit mittels Google und Konsorten ist das bloße Wissen aber kein Vorteil mehr. Das kann nämlich jeder ohne große Anstrengung erlangen, wenn er nur weiß, was er sucht. Es reicht aber nicht, die bloßen Fakten zu finden, man muß sie auch einordnen und bewerten können. Genau das sei in Zukunft die Legitimation des Experten, schreibt Frau Bunz, nämlich im Informationsüberfluß den strukturellen Überblick zu behalten. Er kann sich also nicht mehr durch bloßes Faktenwissen (bösartiger gesagt: durch Herrschaftswissen) legitimieren, sondern ist der ständigen Überprüfung ausgesetzt, was sowohl die behaupteten Fakten als auch die daraus abgeleitete Plausibilität seiner Strukturierung derselben angeht.
Dieser Gedanke birgt für mich eine unmittelbare Plausibilität (oder anders gesagt: mir fallen sofort genug Fakten ein, die ich bereits weiß, die in diese Strukturierung von Wirklichkeit nahtlos einzupassen sind und zugleich durch die Struktur in einer Weise widerspruchsfrei erklärt werden können, daß aus dieser Struktur ein tatsächlicher Wissenszugewinn hervorgeht, der mehr ist als das Zusammenführen an sich bereits bekannter Daten [was in dem Artikel als der nächste Schritt der Digitalisierung dargestellt wird: Suchmaschinen, die intelligent auf Anfragen reagieren und nicht einfach auf schon vorhandene Seiten verweisen, sondern aus als verläßlich bekannten Daten durch Kombination neues "Wissen" {ich habe einen anderen Wissensbegriff als Frau Bunz} generieren, manchem vielleicht schon unter der Chiffre "Semantisches Web" oder im Kontext von Überlegungen zum "Web 3.0" über den Weg gelaufen] -- aber ich schweife ab). Unmittelbarste Bestätigung dieser Veränderung ist das Erlebnis, wie ein Redner noch während seines Vortrags per Twitterwall "auseinandergenommen" wurde und de facto der Lüge (natürlich hatte er die Wahrheit nur ein wenig "gedehnt" und andere Fakten verschwiegen) überführt wurde.
Bei genauerer Betrachtung birgt diese soziologische Struktur(ierung) aber auch einen Erklärungsansatz für das, was sich in unserer Kirche in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt hat, im allgemeinen und die Blogoezese im besonderen. Als Experten werden im Artikel Journalisten, Ärzte, Lehrer und Ingenieure aufgezählt, wenn man hier die Ärzte durch Priester und die Ingenieure durch Theolog(ieprofessor)en ersetzt, hat man gleich die Lieblingsthemen der blogoezesanen und postmodernen (mitunter meinetwegen auch "traditionalistisch" angehauchten) "Kirchenkritiker" erfaßt: Journalisten, die Fakten in einer Weise darstellen, die es ihnen im Gegensatz zu den Fakten selbst ermöglicht, etwas gegen den Papst und die nicht-angepaßten Bestandteile der Kirche zu schreiben; Priester, die ihren eigenen liturgischen Vogel als den Heiligen Geist der Liturgiereform ausgeben; ein Religionsunterricht, in dem man alles mögliche über die Weltreligionen, aber nicht viel Substantielles über Jesus Christus (ge)lernt (hat); und Theologieprofessoren, die vor lauter Detailwissen dermaßen in ihren persönlichen Elfenbeinturm abgedriftet sind, daß natürlich alle anderen daran Schuld sind, daß ihre Vorstellungen nicht wirklichkeitskompatibel sind.
Oder anders gesagt: Das Internet könnte tatsächlich die Quelle für das Erstarken, ich sage mal vorsichtig, des papsttreuen Katholizismus in unseren Landen sein. Weil es eben prinzipiell jedem ohne großen Aufwand möglich ist, die kirchenpolitisch relevanten Grundlagentexte im Wortlaut einzusehen und somit in der Meinungsbildung nicht mehr abhängig von den Experten zu sein, die mitunter die Darstellung der Fakten an ihre vorgefertigte Struktur anpassen. Die Experten haben auch in der Kirche ihre "Gatekeeperfunktion" verloren, das bloße Wissen ist jedem zugänglich, und entscheidend ist nicht mehr, möglichst detailliert Fakten zu kennen und den Gesprächspartner durch solches Herrschaftswissen zu unterwerfen (ok, das ist jetzt zu böse formuliert, an sich will ich niemandem bewußte böse Absicht unterstellen, aber die braucht es gar nicht, bloßer Irrtum reicht vollkommen zur Erklärung aus), sondern eine dem Gegenüber plausible Deutung und Strukturierung dieses Einzelwissens anzubieten. Das aggressive Reagieren auf die "Verweigerung der Gefolgschaft", wie sie sich insbesondere in der Blogoezese manifestiert, in Form des persönliche Angriff, der Schubladisierung und des als ewig gestrig Verächtlichmachens läßt sich folglich mit dem Statusverlust erklären, der einen Experten trifft, der nur Fakten, aber keine Strukturierung anzubieten hat, und dabei gar nicht versteht bzw. verstehen kann, warum er plötzlich mit Widerspruch konfrontiert wird, wo er doch der Experte ist, der die Fakten kennt.
Leider scheint in der Theologie wie auch in den kirchlichen Strukturen noch voll das alte Expertentum zu herrschen. Ich hatte einen Professor, der aus dem Stand bis in die Details hinein das Denken eines bestimmten Theologen in einer bestimmten Monographie reproduzieren konnte, aber nicht in der Lage war, seine Vorlesungen so zu strukturieren, daß sich bei seinen Studenten aus diesen vielen Einzelaspekten eine Gesamtkonzeption hätte entwickeln können. Genauso, wenn auch nicht ganz so extrem, ging's mir übrigens mit dem "Handbuch der Dogmatik". Da stand für micht ganz viel Blabla drin, mitunter durchaus interessante Details, aber mir fehlte die Struktur, in die ich diese Details hätte einpassen können. Ganz anders in Otts angeblich nachkonziliar einfach nicht mehr zu gebrauchendem "Grundriß der Dogmatik". Hier gab es knallharte Fakten, mitunter sehr sehr knapp und gedrängt, dafür war das ganze Buch nichts anderes als Druckerschwärze gewordene Struktur; die wichtigsten Seiten dieses Buches sind die mit dem Inhaltsverzeichnis. Noch extremer übrigens in der Summa Theologiae von Thomas von Aquin, den ich genau dafür liebe, in einem einzigen Artikel soviel geballte Details abzuarbeiten, daß man über jeden Satz eine eigene Doktorarbeit schreiben könnte, aber zugleich immer die Gesamtkonzeption im Blick zu haben.
Daß mir zur Schreibweise des Thomas in seinen Summen gerade der Begriff des "Hypertextes" -- egal, wo man anfängt zu lesen, man kommt immer irgendwie zu allem, muß das Werk also nicht in der Linerarität lesen, in der es geschrieben wurde (obwohl es manchmal hülfe ;-) -- einfiel, macht es für mich nur noch plausibler, die Grundlage des Wandels im Internet zu sehen.
Nachtrag: Noch mehr Hyptertext ist der Weltkatechismus -- und gerade das ist, warum ich ihn dem deutschen Katechismus vorziehe. Beide habe ich noch nie von Deckel zu Deckel gelesen, im Weltkatechismus kann ich aber auf eine konkrete Frage schnell eine knappe Antwort finden, im deutschen würde ich mich dumm und dämlich suchen. Übrigens ist die Frage-Antwort-Form der früheren Katechismen auch eindeutig das Vorbild für die FAQs. :-)
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