Die Sachlichkeit und Differenziertheit ermöglicht es auch, einige Dinge in den Vordergrund zu stellen, die in unserer heute meist empört-aufgeregten öffentlichen Meinung zugunsten des Vorurteils, die Kirche sei unmodern, unter den Tisch fallen. Gleich zu Beginn etwa, daß die Kondomaussage so gar nicht zum (Voruteils-)Bild des dogmatistischen "Panzerkardinals" passen will. Deutet er damit an, daß manche Leute offenbar in jeder Suppe ein Haar finden wollen? Auch im folgenden Absatz räumt er zunächst ein, daß "Humanae Vitae" wie keine andere päpstliche Aussage als Zeichen für die Unvereinbarkeit von Glaube und Moderne stehe. Doch sei diese nicht nur kirchlich gesehen systemimmanent, sondern gerade "den Gebildeten unter den Verächtern der Religion sollte das nicht unsympathisch sein" -- oder anders ausgedrückt: Muß denn automatisch die Moderne im Recht sein, wenn jemand ihr gegenüber skeptisch ist? Wenn das -- als ob nicht der ganze andere Stil schon gereicht hätte! -- mal nicht ein redaktionsinterner Seitenhieb auf Geyer ist! Aber Deckers ist nicht so eindimensional, sich ein Privatgefecht mit einem Kollegen zu liefern, sondern fährt fort:
"Daher wäre es nur fair, wenn wenigstens heute anerkannt würde, daß ein Großteil des Hohns und Spotts, der sich damals wegen der Enzyklika über Paul VI. ergoß, nicht gerechtfertigt war."Denn die Kirche habe sich damit zurecht gegen eine westliche Welt gestellt, die die das Argument einer Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit als Alibi verwendet hat, die mit dem Bevölkerungswachtum in der Dritten Welt verbundene, gerechtfertigte Bedrohung des ressourcenverbrauchenden Lebensstils des Westens zu bekämpfen anstatt die eigene Bequemlichkeit.
Dieses Unrecht gegen Paul VI. vergleicht Deckers mit dem aktuellen Argument, die Kirche sei schuld an der Ausbreitung von Aids, das genauso niveaulos sei (Deckers drückt das natürlich viel eloquenter und verklausulierter aus ;-). Tatsächlich stehe doch die Kirche an vorderster Front im Kampf gegen Aids, nämlich bei den Kranken und Gefährdeten, denen Hinweise, man solle doch Rote Bete und Knoblauch (Mbeki) verwenden, um sich zu schützen, genausowenig helfen, wie "das großzügige Sponsoring männlicher Promiskuität mit Großpackungen voller Gummis". Es hülfen nur "Aufklärung über die Risiken, Kampangen für die eheliche Treue, die Stärkung der Rolle der Frauen und die Sorge für Kranke und Waisen". Ist das nun radikal konservativ oder radikal links? Egal: Es ist radikal katholisch im besten Sinne dieses Wortes, und allein das auf der ersten Seite der FAZ zu lesen, entschädigt für vieles, was in den letzten Tagen zu schlucken war -- auch in der FAZ!
Danach aber geht Deckers von der Apologetik zum Angriff über, bezeichnet Passagen in "Humanae Vitae" über die Folgen der sexuellen Revolution als "fast prophetisch", und das "fast" verdankt sich eher der Kritik an einer zu schwachen Rede von der "Aufweichung der sittlichen Zucht" für das, was eigentlich nur als "durchgängige Sexualisierung des Alltags" und "erschreckende[r] Mangel an der Erziehung der Herzen" beschrieben werden könne.
"Der Münchner Kardinal Marx hat Recht: Die katholische Kirche ist die letzte Verfechterin des Ideals romantischer Liebe."(Und es wäre hinzuzufügen: Einer der größten Gegner ist Hollywood mit seinen niveaulosen Schnulzen, die immer dann enden, wenn Liebe erst wirklich zu sich selbst kommen könnte, nämlich wenn sich die beiden Protagonisten nach allerlei äußeren Irrungen und Wirrungen endlich gefunden haben und nun mit dem inneren Leben des anderen klar kommen müßten...)
Vorsichtig schließt er an, daß daraus ein unumstößliches Verbot künstlicher Methoden von Empfängnisverhütung resultiere, habe selbst die Nachdenklichsten nicht überzeugt, von den Frauen in der Kirche ganz zu schweigen. Damit hat er natürlich recht, denn dieses Verbot resultiert nicht aus dem Ideal der romantischen Liebe, sondern aus dem Recht des Kindes, kein Wunschkind sein zu müssen, sondern um seiner selbst willen und ungeplant (aber gewollt) zur Welt zu kommen, also daß sein Leben nicht von einer menschlichen Zustimmung zur Geburt abhängig ist, sondern allein von Gottes und der Menschen Liebe. Genau deshalb ist die Empfängnisverhütung (ich habe mehr Argumentationsschwierigkeiten mit der Erlaubtheit der natürlichen Methode als mit dem Verbot von Verhütungmitteln) tatsächlich der Abtreibung geistig verwandt (und dieser Konnex muß gegen Deckers' Kritik an Johannes Paul II. verteidigt werden!), denn es geht in beiden Fällen ums "Selbermachen", um den Irrtum, sein Leben selbst im Griff haben zu können und sich selbst über andere und letztlich sogar Gott zu stellen. Systematisierte man diese Einstellung als Weltanschauung, dann wäre man bei dem, was theologisch gesehen als Satanismus zu bezeichnen wäre.
Sagt man sowas aber öffentlich, wird man selbst von einem bekannten deutschen Moraltheologen im Stich gelassen, der im anschließenden privaten Gespräch von sich aus einräumt, man habe natürlich recht, aber das könne man öffentlich nun einmal nicht sagen, weil das keiner verstehe, also die Argumentationsbasis und Überzeugungskraft schmälere. Aber, verdammt nochmal!, was soll man denn sonst sagen? Soll ich Argumente einführen und vertreten, die ich selbst nicht nachvollziehen kann? Wie soll ich dann einen anderen überzeugen?! Und sei es nur, daß mein Gegenüber einräumte, er teile diese Auffassung nicht, aber er sehe zumindest, daß die katholische Position in sich konsistent sei, wie ich mal nachts um drei nach stundenlanger, hitziger Diskussion erleben durfte (eine Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin).
Auch ist es keine Überdehnung päpstlicher Autorität, eine moraltheologische Karriere an Kritik an Humanae Vitae scheitern zu lassen. Natürlich kann jeder Katholik jede beliebige Meinung zu jeder beliebigen päpstlichen oder Glaubensaussage haben und sie gerne auch äußern. Er braucht dann aber nicht zu erwarten, daß er dann noch von der Kirche als Lehrer für den Glauben dieser Kirche und Ausbilder künftiger Priester eingesetzt wird. Denn ein Reich, das in sich gespalten ist, kann keinen Bestand haben. Das heißt natürlich nicht, daß man nur Ja-Sager braucht (es gibt durchaus legitim nebeneinander stehende, miteinander nicht harmonisierbare theologische Ansätze, aber Theologie ist etwas anderes als Glaube und Lehramt, denn es setzt beides voraus, ohne es selbst schaffen zu können), aber man braucht jedenfalls keine Theologen, die dem Zeitgeist dergestalt hinterherrennen, daß sie sich nicht die Mühe machen, ihm unangenehme Elemente der kirchlichen Lehre zu erklären. Wenn Deckers meint, infolge der päpstlichen Autoritätsüberspannung sei das "intellektuelle Niveau des Episkopats [...] heute so niedrig wie lange nicht", stellt sich -- selbst wenn diese Auffassung zuträfe und nicht nur Ausdruck seiner eigenen Arroganz sein sollte, jeden Vertreter von Argumenten, die er nicht versteht, für intellektuell minderbemittelt zu halten -- die Frage, ob er da nicht Ursache und Wirkung miteinander verwechselt.
Daß dies sehr viel wahrscheinlicher ist als Deckers' Annahme, zeigt sich auch daran, daß er ähnlich wie Geyer die Erklärung Lombardis, es gäbe nicht nur eine Hierarchie der Glaubenswahrheiten sondern auch der päpstlichen Äußerungen, einfach durch Behauptung wegredet. Was der Papst in einer Enzyklika mit noch dazu ziemlich hohem lehramtlichen Anspruch verkündet, steht nun einmal auf einer anderen Ebene als die persönliche Äußerung zu einem bestimmten Sonderfall in einem Interview. Oder anders gesagt: Wer eine Enzyklika grundsätzlich in Frage stellt, tut etwas anderes, als der, der der eine Interviewäußerung für überinterpretiert und im Licht der bisherigen Lehre zu verstehen fordert. Das eine äußert der Papst in seiner Funktion als oberstes ordentliches Lehramt, das andere nicht. Hat nicht Papst Benedikt selbst in seinen Jesus-Büchern sehr ausdrücklich betont, es gäbe einen Unterschied zwischen lehramtlichem und theologischem Reden? Die Vorstellung, der Papst nutze ein Interview, um die Lehre der Kirche zu ändern, ist irgendwie... amüsant.
Nach wie vor zu beweisen wäre die Behauptung, daß sich selbst "kirchenverbundene Katholiken" ohne Gewissenbisse einfach über die Lehre der Kirche hinwegsetzten. Vielleicht versteht Deckers ja etwas andereres unter kirchenverbundene Katholiken als ich und vielleicht lebe ich ja auch einfach in einem Fundamentalistenhort, jedenfalls spricht die durchschnittliche Kinderzahl junger Familien in meiner Gemeinde (müßte grob über den Daumen gepeilt über drei liegen) nicht gerade für exzessiven Gebrauch von Kondom und Pille (und auch bei uns gibt es gravierende Differenzen über den recht gelebten Glauben). Vertrauenskapital haben bei mir jedenfalls die verspielt, die rundheraus in Frage stellen, wonach ich (bei allen bleibenden Schwierigkeiten) mein Leben auszurichten versuche! Woher wollen all die, die die katholische Sexualmoral ganz oder teilweise ablehnen, eigentlich wissen, daß sie nicht der Weg zu einem reichen und erfüllten Leben ist? "Komm und sieh" and try it yourself. Aber Vorsicht: Gefahr der Umkehr. BTDT.
Gegen Ende kriegt Deckers allerdings doch wieder die Kurve, seinen Leitartikel nicht in polemische Kirchenkritik abgleiten zu lassen. Er weist darauf hin, daß der Papst hier ganz offensichtlich nicht sich selbst korrigierte, denn er hat sich nie ausführlich zu Kondom und Pille geäußert, dafür in "Deus caritas est" -- das Deckers zu empfehlen nicht müde wird -- das "Hohelied der Sexualität" gesungen. Und zwar ganz ohne den Nebenschauplatz Empfängnisverhütung zu betreten, gehe es ihm doch nicht um Verbote, sondern um "positive Orthodoxie", also zu zeigen, daß und warum der katholische Glaube das beste ist, was einem Menschen passieren kann. Es ist mehr als nur schade, daß dieses Ziel immer wieder durch das Herausgreifen einzelner, nur scheinbar wichtiger Aussagen aus dem Zusammenhang konterkariert und der Papst immer wieder auf ein Diskussionsniveau deutlich unter der Gürtellinie heruntergezogen wird. Irgendwie liegt es nahe, das auch geistlich zu interpretieren...
Insofern ist es aber besonders schade, daß Deckers am Ende sogar seinen eigenen Kommentar konterkariert, indem er die Interviewaussage des Papstes wieder in den Vordergrund stellt und sogar als lehramtlich interpretiert, wenn er schreibt:
"Daß in dieser Perspektive [der Verantwortung von Mann und Frau füreinander und für die Weitergabe des Lebens] auch eine Güterabwägung vonnöten sein kann, und zwar nicht als Übel, sondern als sittliche Pflicht, das ist keine Reform, sondern eine Revolution",bleibt er eindeutig unter seinem eigenen Niveau, denn von Verantwortung für Mann und Frau und Weitergabe des Lebens hat der Papst im Kontext seiner Interviewäußerung nun wirklich nicht gesprochen. Oder hat Prostitution mittlerweile etwas mit Verantwortungüberahme für den Ehepartner und die Weitergabe des Lebens zu tun?! Da müßte mir etwas entgangen sein...
Da Du ja schon selbst sehr ausführlich "einiges daran auszusetzen" hattest brauche ich mich ja nicht mehr mühen ; )
AntwortenLöschenVielen Dank für den langen und guten Kommentar zum Kommentar, den ich erst jetzt entdeckt habe.
AntwortenLöschenZwei Anmerkungen dazu: Mir persönlich spricht Deckers mit seiner Bemerkung bezüglich der Nichtüberzeugung auch der nachdenklichen Katholiken aus dem Herzen. Der Knackpunkt ist dabei NICHT, wie du sagst, das Recht des Kindes auf "ungeplante" Entstehung (denn dieses "Recht" hat es auch dann nicht, wenn "natürliche" Enthaltung an fruchtbaren Tagen geübt wird) - das Argument selbst ist völlig ok, wird aber bereits durch die kirchliche Lehre konterkarriert. Das ist es, was nicht verständlich ist. Natürlich kann ein katholisches Ehepaar Humanae Vitae durch und durch verstanden haben UND bejahen und dennoch zu Zeiten künstlich verhüten, genau wie es auch durch natürliche Verhütung geschieht (nur sicherer, was ja manchmal auch vonnöten ist). Ich glaube es war C.S. Lewis, der mal das Argunment gebracht hat, bei der Zeitwahl könnte der liebe Gott "dazwischenfunken" - und das sei der Untershied zur künstlichen Verhütung. Aus meiner eigenen Erfahrung kann der liebe Gott aber problemlos auch bei Pilleneinnahme "dazwischenfunken" - entscheidend ist, dass man das überraschend entstandene Kind dann genauso als sein Geschenk annimmt wie jenes, wo man es "drauf ankommen" ließ oder was man regelrecht geplant hatte ("künstlich" oder "natürlich"). Die Unterssheidung in "künstliche" und "natürliche" Verhütung macht für mich NUR dann Sinn, wenn die Grundeinstellung vom Kind als Gottesgeschenk nicht stimmt. Genau das ist aber bei vielen katholischen Paaren nicht der Fall - und die sind es, von denen Deckers m.E. spricht.
Punkt 2: "Daß in dieser Perspektive [der Verantwortung von Mann und Frau füreinander und für die Weitergabe des Lebens] auch eine Güterabwägung vonnöten sein kann, und zwar nicht als Übel, sondern als sittliche Pflicht, das ist keine Reform, sondern eine Revolution".
Hier spricht Deckers mE nicht von der breit diskutierten Kondomäußerung, sondern von einem bisher medial überhaupt nicht behandelten Abschnitt aus "Licht der Welt", den ich hier zitieren will: "Was Paul VI. sagen wollte und was als große Vision richtig bleibt, ist: wenn man Sexualität und Fruchtbarkeit voneinander trennt, wie es durch die Anwendung der Pille geschieht, dann wird Sexualität beliebig. Dann sind in der Folge auch alle anderen Formen von Sexualität gleichwertig. Dieser Auffassung, die die Fruchtbarkeit als etwas anderes betrachtet, womöglich so, dass man Kinder rational produziert und sie nicht mehr als ein natürliches Geschenk sieht, ist ja auch sehr schnell die Gleichbewertung der Homosexualität gefolgt. Die Perspektiven von Humanae Vitae bleiben richtig. Nun aber wiederum Wege der Lebbarkeit zu finden, ist etwas anderes. Ich glaube, es wird immer Kerngruppen geben, die sich wirklich innerlich davon überzeugen und erfüllen lassen und dann andere mittragen. Wir sind Sünder. Aber wir sollten es nicht als Instanz gegen die Wahrhheit nehmen, wenn diese hohe Moral nicht gelebt wird. Wir sollten versuchen, so viel Gutes zu tun, wie wir können, und einander zu tragen und zu ertragen. Dies alles auch pastoral, theologisch und gedanklich im Kontext der heutigen Sexualforschung und Anthropologie so auszusagen, dass es verständlich wird, das ist eine große Aufgabe, an der gearbeitret wird und an der noch mehr und noch besser gearbeitet werden muss." (Licht der Welt, S. 175)
Zu Punkt 1: Du triffst ziemlich genau meinen angesprochene Argumentationsschwierigkeiten :-) Allerdings gehe ich davon aus, daß an meinem Denken noch was falsch sein muß, denn ich will eigentlich alles "in kindlichem Gehorsam" annehmen, was die Kirche lehrt (und es tut mir ja nicht weh, daß die Kirche etwas erlaubt, was ich nicht praktizieren will; zudem will ich auch nicht "katholischer sein als der Papst"). Ich versuche die Erlaubtheit der natürlichen Empfängsnisregelung über zwei Argumente zu verstehen (die mich allerdings noch nicht restlos überzeugen):
AntwortenLöschen1. So oder so nicht aus Jux und Dollerei, sondern nur aus reifer Überlegung und gutem Gewissensurteil, ein weiteres Kind wirtschaftlich, physisch oder psychisch nicht verkraften zu können. (Im "physischen" Kontext ist ja sogar Sterilisation legitim, nämlich wenn das Ziel nicht die Empfängnisverhütung sondern die Gesundheit ist [und diverse weitere Bedingungen gegeben sind, etwa daß die Sterilisation anderen, weniger endültigen Wegen medizinisch überlegen ist usw.].)
2. Die NER weist einen wesentlichen Unterschied zu künstlichen Mitteln auf: Sie verzichtet auf Sex. Die künstlichen Mittel hingegen ermöglichen, die Sexualität jederzeit verfügbar zu haben.
Wie gesagt, überzeugt mich das noch nicht völlig, weil es noch viel zu viele und viel zu einfache Auswege bietet, plötzlich doch legitim künstliche Hilfmittel zur Empfängnisverhütung zu benutzen, aber auch hier würde ich sagen: Nur weil etwas nicht einleuchtet, heißt das noch lange nicht, daß es falsch ist, sondern fordert vielmehr zu verstärkten denkerischen Anstrengungen auf.
Zu Punkt 2: Kann ich ehrlichgesagt nicht nachvollziehen, einerseits finde ich im zitierten Abschnitt keine Forderung zur Güterabwägung, geschweigedenn eine Pflicht dazu (sondern nur pastorale Milde angesichts der Sündigkeit und Schwäche des Menschen), zum anderen weist im Text nichts, aber auch gar nichts darauf hin, daß Deckers sich hier auf eine im ganzen Text des Kommentars nicht erwähnte Stelle in Licht der Welt beziehen könnte. Wäre das Deckers Absicht gewesen, hätte er einen ganz fatalen (Anfänger-)Fehler begangen: Von seinem Leser zu erwarten, daß er das ganze Buch gelesen hätte, und das obwohl der Begriff "Revolution" von Geyer in derselben Zeitung auf die "Kondomchose" gemünzt wurde.
Hello again,
AntwortenLöschenschön, dass Deckers dann doch tiefergehenden Debatten auslösen konnte! Dein Beitrag hat dazu mehr beigetragen, als es die Stellungnahmen von "offzieller" Seite seit Jahren tun, das muss ich jetzt einfach mal sagen!
Du schreibst "(Im "physischen" Kontext ist ja sogar Sterilisation legitim, nämlich wenn das Ziel nicht die Empfängnisverhütung sondern die Gesundheit ist [und diverse weitere Bedingungen gegeben sind, etwa daß die Sterilisation anderen, weniger endültigen Wegen medizinisch überlegen ist usw.].)"
Und genau hier ist doch die Querverbindung zur Kondomsache! Es GIBT Gründe der Verantwortung, die "das geringere Übel" notwendig machen, zum Beispiel gesundheitliche Gründe - aber natürlich auch andere, die du ja auch erwähnst. Verantwortung entwertet doch den SINN der Sexualität nicht.
Das auf "etwa" homosexuelle Stricher gemünzte "kleinere Übel" als ERSTE Hinwendung zu moralischer Überlegung müßte doch auch auf katholische Eheleute anzuwenden sein, die von Natur her AUCH sexuelle Wesen und ganz offen für Kinder sind - nur eben nicht für Dutzende, weil sie auch Verantwortung für ihre bereits bestehende Familie haben. Oder was sehe ich (bzw. Deckers) da falsch?
Sowas, mein Kommentar ist zu lang, also in zwei Teilen:
AntwortenLöschenDie Wahl eines geringeren Übels kann nur in Dilemmasituationen möglich sein, wo also die Vermeidung eines Übels notwendig ein anderes Übel nach sich zieht. Diese Situationen gibt es, auch im Bereich der Sexualität. Nur sind das die Einzelfälle, von denen ich in diesem Posting sprach.
Das "Stricher"-Beispiel bezieht sich aber gerade nicht auf eine solche Situation, sondern beschreibt eine tiefe Verhaftung in der Sündhaftigkeit, in der die Verwendung eines Kondoms nicht das geringere Übel im moraltheologischen Sinn ist. Vielmehr stellt sie in einem weitgehend von der Sünde durchwirkten Zusammenhang eine erste Regung zur Besserung dar, wenigstens eine Fahrlässigkeit zu unterbinden. Im Vergleich zu Prostitution ist die Frage Kondom ja oder nein verhältnismäßig uninteressant, kann aber Ausdruck einer nicht völligen Abstumpfung sein, läuft also unter "glimmender Docht".
Die Frage, ob es bisher tatsächlich so einfach gehandhabt wurde, wäre auch noch auszudiskutieren. Ich gehe eher von einer Vermittelbarkeitsproblematik aus. Die kirchliche Morallehre war immer komplex, egal ob sie moraltheologisch nun kasuistisch ausbuchstabiert war oder nicht. Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war sie es. Danach begannen die Grundlagendebatten, die viel Zeit und Energie banden, sich in einige Sackgassen verirrten und bis heute nicht endgültig abgeschlossen sind. Das verhinderte ein stärkeres Engagement in den konkreten moraltheologischen Traktaten, die entsprechend blaß waren (vielleicht war es auch ein Desinteresse an diesen Traktaten, denn seit einiger Zeit haben die Fragen zur Lebensethik [an beiden Enden des Lebens] die Oberhand gewonnen; die Sexualmoral ist moraltheologisch jedenfalls nicht in dem Maße behandelt worden, wie ihre öffentliche Wahrnehmung es erfordert hätte).
Einig war man sich eigentlich nur darin, daß man mit der Kasuistik heute nicht mehr weit kommt und keinen Blumentopf mehr gewinnen kann. Das halte ich prinzipiell sogar für richtig. Aber es ist realitätsfern. Der einzelne Gläubige sucht nicht aus komplexen Prinzipien abgeleitete differenzierte Antworten, sondern will klipp und klar wissen: Was lehrt die Kirche in Punkt xy. (Das ist jedenfalls die Erfahrung, die mein Doktorvater immer und immer wieder macht, und der er sich aus hehren Gründen, aber m.E. mit gravierenden pastoralen Folgen verweigert.) Und auf Grundlage dieses Wissens will er dann entscheiden, ob er sich an die Lehre der Kirche hält oder nicht. (Genau so verstehe ich jedenfalls auch unsere Diskussion hier.)
Um jetzt nicht zu weit auszuholen: Angesprochen ist damit ein Kommunikationsproblem. Die Moraltheologen und die von ihnen ausgebildeten Priester sprechen von Prinzipien, die die Gläubigen selbst verantwortet auf ihre Realität anwenden müssen. Die Gläubigen hören aber starre Regelungen und Verbote. Also auf die Kondomfrage bezogen:
AntwortenLöschenMoraltheologie: Die Verwendung von Kondomen zur Empfängnisverhütung ist prinzipiell und grundsätzlich verwerflich. (= Diese Aussage stellt ein Prinzip und einen Grundsatz dar, der auf die konkrete Lebensrealität angewendet werden muß.)
Einfacher Gläubiger und mitunter auch Priester: Kondome sind prinzipiell und grundsätzlich schlecht. (= Diese Aussage beschreibt, daß es keine Ausnahmen gibt und Kondome immer und unter allen Umständen bei schwerer Sünde verboten sind.)
Das ist ein Mißverständnis, das ich mit der äquivoken Verwendung von "prinzipiell" und "grundsätzlich" zu beschreiben versuche. Aber es birgt noch mehr Verschiebungen, etwa daß ja eigentlich nicht das Kondom schlecht ist, sondern eine Handlung, die sich des Kondoms als Mittel bedient, und zwar nicht jede Handlung, die sich eines Kondoms als Hilfsmittel bedient, sondern jene Handlung, die das Kondom zur Empfängnisverhütung verwendet. Bei der Pille hat Paul VI. selbst gesagt: Wenn sie zum Zweck der Genesung verwendet wird oder notwendig zur Gesunderhaltung ist, also die empfängnisverhütende Wirkung nicht als Zweck angestrebt, sondern nur als "Kollateralschaden" in Kauf genommen wird, ist ihre Anwendung völlig legitim (klassische Lehre von den zwei Wirkungen einer Handlung: Die Handlung ist dann legitim, wenn die ethisch gute Wirkung angestrebt und die schlechte nur in Kauf genommen wird, um das gute Ziel zu erreichen. Und nein: Das heißt nicht, der Zweck heiligte die Mittel.) Bleibt noch der Fall, den Du, wenn ich Dich richtig verstanden habe, angesprochen hast: Verwendung von empfängnisverhütenden Mitteln gerade die Empfängnis zu verhüten, weil diese selbst eine Gesundheitsgefährdung darstellt. Hier würde ich (wenn auch noch nicht ganz ausgereift durchdacht) sagen: Es ist besser, Kondome zu verwenden als nachträglich abzutreiben (was im übrigen die eigentliche Wirkung der Pille ist). Es wäre aber noch besser, den Sex auf die Zeiten zu beschränken, in denen sowieso keine Fruchtbarkeit gegeben ist, weil so keine schleichende Entfremdung der sexuellen Praxis von ihrer Ausrichtung auf die Zeugung von Kindern erfolgt (= prinzipielle Zeugungsoffenheit, d.h. vom Prinzip her, wenn auch nicht aktuell). Insofern rechtfertigt sich die erstere Wahl (also das Kondom) nicht als das geringere Übel (im klassischen moraltheologischen Sinn der Wahl in der Dilemmasituation), sondern nur pastoral aufgrund der menschlichen Schwäche als das "geringere Übel" gegenüber dem noch schlimmeren eines Mordes. Jedoch ist diese Option von der Haltung her so nah an der des Mordes, daß sie angesichts der zur Verfügung stehenden ethisch unbedenklichen Wahl der NER eben moralisch nicht gerechtfertigt ist (= die NRE ist der bessere Weg auf dem Weg zur Heiligkeit, die Verwendung von Kondomen ist eine Gefahr auf diesem Weg).
Und daran zeigt sich auch nochmal: Es geht hier nicht um das geringere Übel, sondern es gibt Situationen, in denen Hilfsmittel, die auch zur Empfängnisverhütung dienen können, völlig legitim und ohne schlechtes Gewissen verwendet werden können. Das ist etwas völlig anderes als das, was der Papst mit dem "Stricher"-Beispiel ansprach.
„Das "Stricher"-Beispiel bezieht sich aber gerade nicht auf eine solche Situation, sondern beschreibt eine tiefe Verhaftung in der Sündhaftigkeit, in der die Verwendung eines Kondoms nicht das geringere Übel im moraltheologischen Sinn ist.“
AntwortenLöschenDeshalb hatte ich ja die Parallelstelle zitiert, die sich ausdrücklich mit der Empfängnisverhütung befasst (und nicht mit Aids). Natürlich wirkt es absurd, einen Stricher und die sexuelle Liebe eines Ehepaares gleichermaßen mit „wir sind eben alle Sünder *seufz*“ zu überschreiben. Aber im KERN scheint es da eben doch eine Parallele zu geben – denn ganz von der Hand zu weisen ist es ja auch nicht, dass GERADE die Sexualität einen Anteil von Egoismus enthält, der letztlich nicht zur vollkommenen Liebe passt und daher sündhaft ist. Und genau darin liegen eben auch die Gefährdungen.
Ich sehe hier viel mehr den Ansatzpunkt als bei der "Offenheit auf Kinder hin" - die bei katholischen Eheleuten, die ihre Kirche im Prinzip verstehen WOLLEN, ja überhaupt nicht zur Debatte steht. Es geht um den Sex selbst.
Eine kasuistische Sexualmoral („Tut dies, lasst das“) nimmt dem Problem insofern Schärfe, als man sich auf ein Gesetz berufen kann, dem man sich verpflichtet fühlt. Sobald dieses Gesetz aber in Konflikt mit einer Verantwortungssituation gerät, vermisst man schmerzhaft jene „Freiheit der Kinder Gottes“, zu der wir eigentlich berufen sind. Weil man sie einfach verlernt hat. Diese Freiheit ist eben NICHT "alles ist erlaubt", sondern muß sich von ihrer Quellle nähren, die "Liebe" eben nicht als Selbstbefriedigung à deux versteht.
Das Groteske ist, dass man dann STATT diese Freiheit kennenzulernen (mit Hilfe der Kirche) eine kasuistische Erlaubnis von der Kirche für alles, was Gott verboten hat fordert (Geyer) – da bin ich voll auf Deiner Linie. Aber mE hat sich das die Kirche selbst zuzuschreiben – weil Humanae Vita (oder zumindest ihre Rezeption, was ja auch mit ihrer Vermittlung zusammenhängt) viele Leute von der Kirche entfernt hat nach dem Motto: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Die Antwort war oft genug: Ja, wenn ihr dabei Kondome/Pille verwendet. An diesem Punkt haben sich viele die Ohren zugehalten ("davon verstehen die zölibatären Kleriker eh nichts") – mit dem Effekt, dass sie überhaupt nicht mehr auf die Kirche gehört haben, weder in sexualmoralischen Fragen noch in anderen. Es gibt zwar nach wie vor eine Sehnsucht nach Orientierung an der Wahrheit – aber worum es bei dieser (das Wesen der Sexualität im Kontext der göttlichen Liebe betreffenden) Wahrheit eigentlich geht, wissen selbst viele Priester der Kirche nicht mehr so genau, die ihre Gläubigen dahingehend beraten. Mehr als „Kondome/Pille dürfen nicht verwendet werden“ am einen Ende des Spektrums und „Macht was ihr wollt, ihr habt die Freiheit der Kinder Gottes“ am anderen war seit Jahrzehnten nichts zu hören. Letztlich muss es aber doch auf eine Erziehung zur Freiheit hingehen – die alles andere als ein „laisser faire“ darstellt.
„Das "Stricher"-Beispiel bezieht sich aber gerade nicht auf eine solche Situation, sondern beschreibt eine tiefe Verhaftung in der Sündhaftigkeit, in der die Verwendung eines Kondoms nicht das geringere Übel im moraltheologischen Sinn ist.“
AntwortenLöschenDeshalb hatte ich ja die Parallelstelle zitiert, die sich ausdrücklich mit der Empfängnisverhütung befasst (und nicht mit Aids). Natürlich wirkt es absurd, einen Stricher und die sexuelle Liebe eines Ehepaares gleichermaßen mit „wir sind eben alle Sünder *seufz*“ zu überschreiben. Aber im KERN scheint es da eben doch eine Parallele zu geben – denn ganz von der Hand zu weisen ist es ja auch nicht, dass GERADE die Sexualität einen Anteil von Egoismus enthält, der letztlich nicht zur vollkommenen Liebe passt. Und genau darin liegen eben auch die Gefährdungen.
Es geht also gar nicht um „Offenheit für Kinder“ – zumindest nicht bei den „nachdenklichen" katholischen Ehepaaren, von denen Deckers spricht. Die SIND ja offen auf Kinder. Es geht also vor allem um den Sex selbst, der ja wesentlicher Teil dieser "Offenheit" ist - und auch neben ihr besteht (schließlich entstehen nicht immerzu Kinder).
Eine kasuistische Sexualmoral („Tut dies, lasst das“) nimmt dem Problem insofern Schärfe, als man sich auf ein Gesetz berufen kann, dem man sich verpflichtet fühlt. Sobald dieses Gesetz aber in Konflikt mit einer Verantwortungssituation gerät, vermisst man schmerzhaft jene „Freiheit der Kinder Gottes“, zu der wir eigentlich berufen sind. Weil man sie einfach verlernt hat.
Das Groteske ist, dass man dann STATT diese Freiheit kennenzulernen (mit Hilfe der Kirche) eine kasuistische Erlaubnis von der Kirche für alles, was Gott verboten hat fordert (Geyer) – da bin ich voll auf Deiner Linie. Aber mE hat sich das die Kirche selbst zuzuschreiben – weil Humanae Vita (oder zumindest ihre Rezeption, was ja auch mit ihrer Vermittlung zusammenhängt) viele Leute von der Kirche entfernt hat nach dem Motto: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Und die Antwort lautete zu oft: „Ja, wenn ihr es mit Kondom/Pille macht“. An diesem Punkt haben sich viele die Ohren zugehalten („davon verstehen zölibatäre Kleriker eh nichts“) – mit dem Effekt, dass sie überhaupt nicht mehr auf die Kirche gehört haben, weder in sexualmoralischen Fragen noch zu deren Begründung. Es gibt zwar nach wie vor eine Sehnsucht nach Orientierung an der Wahrheit – aber worum es bei dieser (das Wesen der Sexualität im Kontext der göttlichen Liebe betreffenden) Wahrheit eigentlich geht, wissen selbst die Priester der Kirche nicht (mehr?) so genau, die ihre Gläubigen dahingehend beraten. Mehr als „Kondome/Pille dürfen nicht verwendet werden“ am einen Ende des Spektrums und „Macht was ihr wollt, ihr habt die Freiheit der Kinder Gottes“ am anderen war seit Jahrzehnten nichts zu hören. Letztlich muss es aber doch auf eine Erziehung zur Freiheit hingehen – die alles andere als ein „laisser faire“ darstellt. Wenn DAS der Effekt der Interview-Äußerungen des Papstes wäre, dann wäre es in der Tat eine Revolution: Weg von einer Kasuistik, deren Hintergründe höchstens noch eine Handvoll Leute nachvollziehen können, hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung von Sexualität und ihrer eigentlichen Bedeutung. Dass Deckers plötzlich bedenkenswerte Seiten an Humanae Vitae entdeckt, ist mE bereits Auswirkung dieser „Revolution“. Wahrscheinlich wird es aber dabei auch schon bleiben – wenn nicht viele Priester sich die Mühe machen, Denkanstösse wie die deinen zu vermitteln.
Das nenne ich doch mal eine Diskussion auf hohem Niveau! Hervorragend: Inhalt, Stil, und nicht zu vergessen in einwandfreiem Deutsch!
AntwortenLöschenDas sage ich, derweil meine eigenen Kommentare auf der Blogoezese eher von Kurzweil oder "Heiligem Zorn" gepraegt sind.